Das Internet steht möglicherweise vor einer weiteren tiefgreifenden Veränderung. Microsoft hat mit NLWeb (Natural Language Web) ein neues, offenes Projekt ins Leben gerufen, das nicht weniger verspricht, als die Art und Weise, wie wir mit Webseiten interagieren, neu zu definieren. Vorgestellt auf der Entwicklerkonferenz Build 2025, zielt NLWeb darauf ab, praktisch jede Webseite in eine „KI-App“ zu verwandeln. Nutzer sollen in die Lage versetzt werden, Fragen in natürlicher Sprache zu stellen und direkte Antworten aus den Inhalten der Seite zu erhalten, ähnlich wie bei einem KI-Assistenten. Doch hinter dieser vielversprechenden Vision verbergen sich auch strategische Ambitionen und kritische Fragen, die einer genaueren Betrachtung bedürfen.
Die treibende Kraft: R.V. Guha und die Idee des „Agentic Web“
Hinter NLWeb steht Dr. R.V. Guha, eine Koryphäe der Web-Technologie, der als Corporate Vice President und Technical Fellow zu Microsoft gestoßen ist. Guha ist kein Unbekannter; er war maßgeblich an der Entwicklung von Web-Standards wie RSS (Really Simple Syndication), RDF und dem weit verbreiteten Schema.org beteiligt. Seine Beteiligung verleiht NLWeb erhebliche Glaubwürdigkeit und signalisiert den Anspruch, einen ähnlich fundamentalen Standard für das KI-Zeitalter zu schaffen.
NLWeb ist eingebettet in Microsofts größere Vision eines „agentenbasierten Webs“ (agentic web). Die Idee ist, dass KI-Agenten in Zukunft autonom mit Webseiten interagieren, Informationen abrufen, Aufgaben ausführen und sogar Transaktionen durchführen können. NLWeb soll hierfür die grundlegende Infrastruktur liefern, quasi das „HTML für das agentische Web“.
Die Technologie: Offenheit und Integration
Technisch setzt NLWeb auf offene Protokolle und Open-Source-Werkzeuge. Es bietet eine REST/JSON-API, über die Anfragen in natürlicher Sprache gestellt und Antworten im JSON/Schema.org-Format zurückgegeben werden. Der Clou: NLWeb nutzt bestehende strukturierte und semi-strukturierte Daten, die viele Webseiten bereits bereitstellen – wie Schema.org-Metadaten, RSS-Feeds oder Produktkataloge. Diese Daten werden in Vektor-Datenbanken gespeichert und mithilfe großer Sprachmodelle (LLMs) für die Beantwortung von Anfragen aufbereitet und angereichert.
Microsoft betont den plattform- und modellagnostischen Ansatz: NLWeb soll auf allen gängigen Betriebssystemen laufen und diverse LLMs (OpenAI, Gemini, Claude etc.) sowie Vektor-Datenbanken (Qdrant, Milvus, Snowflake, Azure AI Search) unterstützen.
Ein zentrales Element ist die native Integration des Model Context Protocol (MCP). Jede NLWeb-Instanz fungiert als MCP-Server. MCP, ein von Anthropic initiierter offener Standard, den Microsoft umfassend adaptiert hat, ermöglicht es KI-Agenten, Tools und Datenquellen standardisiert zu entdecken und zu nutzen. Dies soll die Interaktion von Agenten untereinander (A2A) und mit Webseiten erleichtern.
Microsofts Motivation: Mehr als nur Altruismus?
Microsoft präsentiert NLWeb als Initiative zur Demokratisierung von KI, die es jedem Web-Publisher ermöglichen soll, KI-Erlebnisse zu schaffen. Es soll eine Alternative zum reinen „Datenabzug“ durch große KI-Modelle bieten und Publishern die Kontrolle über ihre Inhalte im KI-Zeitalter sichern.
Doch die Motivation ist vielschichtig:
- Strategische Positionierung: Analysten sehen in NLWeb einen potenziellen „strategischen Burggraben“. Indem Microsoft die Schnittstelle für das agentische Web definiert, könnte es sich als zentraler Hub positionieren und die Schicht kontrollieren, über die KI-Agenten operieren und monetarisiert werden.
- Ökosystem-Integration: NLWeb fügt sich nahtlos in Microsofts Copilot- und Azure-Strategie ein. Ein florierendes NLWeb-Ökosystem könnte die Nachfrage nach Azure-Cloud-Diensten steigern.
- First-Mover-Vorteil: Microsoft will eine offene, aber Microsoft-geprägte Standardlandschaft schaffen, bevor Konkurrenten eigene, möglicherweise proprietäre Lösungen etablieren.
Aktueller Stand und Ausblick: Frühe Schritte und ambitionierte Pläne
NLWeb befindet sich noch in einem frühen Stadium (Stand Mai 2025), ist aber als Open-Source-Projekt auf GitHub verfügbar. Microsoft arbeitet bereits mit einer Gruppe von „Pioneer“-Partnern zusammen, darunter namhafte Unternehmen wie Tripadvisor, Shopify, O’Reilly Media und Snowflake, um die Technologie zu erproben. Erste Erfahrungen deuten auf eine relativ schnelle Implementierung hin, wenn bereits strukturierte Daten vorhanden sind.
Die Roadmap sieht eine schrittweise Erweiterung vor:
- Kurzfristig: Unterstützung weiterer Cloud-Plattformen (AWS, GCP) und die Vision, NLWeb auch auf Smartphones lauffähig zu machen.
- Mittelfristig: Ausbau der Fähigkeiten über reine Abfragen hinaus, hin zu Transaktionen. Die Weiterentwicklung von MCP soll komplexere Agenten-Workflows und Multi-Modalität (Video etc.) ermöglichen.
- Langfristig: NLWeb soll zu einem Standard für das „agentische Web“ werden, in dem KI-Agenten autonom handeln und eine „agentische Ökonomie“ entsteht.
Der kritische Blick: Chancen, Herausforderungen und offene Fragen
NLWeb bietet zweifellos enorme Potenziale: eine intuitivere Web-Interaktion, eine stärkere Rolle für Publisher im KI-Zeitalter und die Chance auf ein offenes, partizipatives Ökosystem. Doch die Initiative wirft auch kritische Fragen auf und steht vor erheblichen Herausforderungen:
Potenziale:
- Offenheit: Der Open-Source-Ansatz fördert Akzeptanz und Flexibilität.
- Expertise: R.V. Guhas Führung bürgt für konzeptionelle Stärke.
- Effizienz: Die Nutzung bestehender Daten senkt die Einstiegshürden.
Herausforderungen & Risiken:
- Reifegrad & Komplexität: Die Technologie ist jung. Die Implementierung könnte für viele Publisher trotz aller Vereinfachungsbemühungen komplex bleiben.
- Datenaktualität: Die Synchronisation von Live-Daten mit Vektor-Datenbanken ist eine technische Hürde.
- Sicherheit & Vertrauen: Wie schützt man sich vor böswilligen KI-Agenten? Wie wird der Datenschutz gewährleistet? Wer haftet für Fehler oder Missbrauch durch Agenten?.
- Standardisierung & Wettbewerb: Wird sich NLWeb durchsetzen, oder droht eine Fragmentierung durch Konkurrenzlösungen von Google oder Amazon?.
- Qualitätskontrolle: Die Qualität der NLWeb-Schnittstellen hängt stark von den Daten und LLMs der Publisher ab. Schlechte Implementierungen könnten das Vertrauen untergraben.
- Zentralisierungsgefahr: Trotz des offenen Ansatzes besteht die Sorge, dass Microsoft durch seine zentrale Rolle und die Integration mit Azure und Windows die Entwicklung dominiert und zu viel Kontrolle erlangt.
- Publisher-Modell: Wie verdienen Publisher Geld, wenn Nutzer Antworten direkt erhalten, ohne die Seite zu besuchen?.
Offene Fragen:
- Governance: Wer steuert die Weiterentwicklung des „offenen“ Standards wirklich?.
- Adoption: Gelingt es, eine breite Entwickler-Community zu mobilisieren?.
- Interoperabilität: Wie wird die Zusammenarbeit zwischen verschiedenen NLWeb-Instanzen und Agenten in der Praxis funktionieren?.
- Kosten: Welche Rechen- und Betriebskosten entstehen für Publisher?.
Fazit
Microsoft NLWeb ist mehr als nur ein neues Werkzeug; es ist ein ambitionierter Vorstoß, das Web für das Zeitalter der künstlichen Intelligenz neu zu gestalten. Die Vision eines „agentischen Webs“ ist faszinierend und birgt das Potenzial für eine effizientere und intuitivere digitale Welt. Die offene Herangehensweise und die Beteiligung einer Schlüsselfigur wie R.V. Guha sind vielversprechend.
Dennoch ist Vorsicht geboten. Die technischen und konzeptionellen Hürden sind beträchtlich, und die strategischen Interessen Microsofts dürfen nicht übersehen werden. Die entscheidenden Fragen rund um Sicherheit, Kontrolle, Governance und die tatsächliche Akzeptanz durch Entwickler und Publisher sind noch unbeantwortet. Ob NLWeb tatsächlich eine Revolution wie HTML einleitet oder sich als ein weiterer, wenn auch mächtiger, Baustein im Microsoft-Ökosystem erweist – oder gar in einem Standardisierungskrieg zerrieben wird – werden erst die kommenden Jahre zeigen. Die Web-Community ist gut beraten, diese Entwicklung aufmerksam und kritisch zu begleiten.
Von: Olaf Dunkel – http://www.olafdunkel.de
© 2025 Dieser Beitrag beruht auf eigenständiger Recherche und Analyse diverser Quellen;
eine KI leistete lediglich sprachliche Unterstützung, die inhaltliche Verantwortung trägt ausschließlich der Autor.
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